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Rätsel zur Leipziger Buchmesse

  • Autorenbild: Christoph Heilig
    Christoph Heilig
  • 26. März
  • 17 Min. Lesezeit
Foto: Je-str, lizenziert unter Creative Commons Attribution-Share Alike 4.0 International. Also ganz authentisch menschlich, oder?
Foto: Je-str, lizenziert unter Creative Commons Attribution-Share Alike 4.0 International. Also ganz authentisch menschlich, oder?

Wer hat die folgende Kurzgeschichte geschrieben? Ein menschlicher Autor / eine menschliche Autorin? Wenn ja, ein guter / eine gute? Wenn ja, welcher / welche? Oder etwa doch eine KI? Vielleicht ging der Text auch aus einer menschlichen und maschinellen Kooperation hervor? Wenn ja, wie wird sie wohl ausgesehen haben? Tipps nehme ich gerne per eMail (info@christoph.heilig.de) entgegen. Die Auflösung gibt es dann nach der Buchmesse hier auf dem Blog.


Dämmerung hinter Glas


Am 27. März 2025 öffnet die Leipziger Buchmesse ihre Tore für die jährliche Zusammenkunft der deutschen Buchbranche. Die weitläufigen Glashallen des Messegeländes füllen sich mit dem Stimmengewirr tausender Besucher, die zwischen den farbenfrohen Ständen flanieren. Der Geruch von frischem Druckerpapier und Kaffee hängt in der Luft, während die Vormittagssonne durch die Glasdächer fällt und die Buchcover zum Leuchten bringt. Es ist ein kühler Frühlingstag in Leipzig, die Temperaturen liegen bei etwa 12 Grad, und viele Besucher tragen noch ihre Frühjahrsjacken, während sie durch die beheizten Messehallen schlendern.

 

In Halle 2 haben die großen Publikumsverlage ihre imposanten, mehrgeschossigen Stände aufgebaut. Die Displays leuchten, Bildschirme flimmern, und Hostessen in perfekt sitzenden Kostümen reichen Werbegeschenke. In Halle 5 dagegen präsentieren die unabhängigen Verlage ihre Neuerscheinungen in bescheideneren, aber oft kreativeren Präsentationen – handgezimmerte Regale, vintage Sessel zum Probelesen, selbstgebackene Kekse auf Keramiktellern.

 

Dazwischen bewegen sich die Akteure der Branche in einem komplizierten Tanz: Verleger mit Notizbüchern und kritischen Blicken, Autoren, die zwischen Nervosität und Selbstdarstellung schwanken, Literaturagenten mit permanent vibrierenden Smartphones, Buchhändler auf der Suche nach dem nächsten Bestseller und Leser, die nach Signierstunden und kostenlosen Leseproben Ausschau halten.

 

Der offizielle Messekatalog – ein Backstein aus Hochglanzpapier – listet 2.731 Aussteller aus 46 Ländern. Ein Herold der Neuerscheinungen für Frühjahr und Sommer, gewichtig genug, um als Türstopper zu dienen.

 

Unter der Oberfläche des gewohnten Messetrubels braut sich jedoch etwas zusammen. Die Luft vibriert nicht nur vom Stimmengewirr und den Espressomaschinen, sondern auch von einer unterschwelligen Spannung. Eine Revolution, die niemand kommen sah und die das Selbstverständnis einer ganzen Branche auf den Kopf stellen wird.

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Am Morgen des 27. März 2025, dem ersten Messetag, betritt Martin Buchwald um exakt 8:15 Uhr das Messegelände. Der 58-jährige Verleger in dritter Generation ist bereits seit 5:30 Uhr wach, hat in seinem bescheidenen Hotelzimmer zwei Tassen schwarzen Kaffee getrunken und die Druckfahnen eines Essays über Thomas Mann korrigiert. Mit seinen 1,83 Metern Körpergröße und der hageren Gestalt wirkt er wie eine Figur aus einem anderen Zeitalter, verstärkt durch sein charakteristisches abgewetztes Tweed-Jackett mit Lederflicken an den Ellbogen.

 

Die randlose Lesebrille rutscht ihm ständig die Nase hinunter, während seine grauen Schläfen die markanten Gesichtszüge betonen. In den Taschen seines Jacketts stecken Lesezeichen mit dem verblassten Logo seines Verlags, ein Stapel Visitenkarten und sein unverzichtbares Lederetui mit drei verschiedenen Füllern. Er bewegt sich mit der Selbstsicherheit eines Mannes, der die Buchmesse seit über drei Jahrzehnten besucht, durch die sich langsam füllenden Gänge.

 

Der mittelständische Buchwald Verlag, den Martin von seinem Vater übernommen hat, war einst eine Instanz für anspruchsvolle Literatur. Die Geschäftsräume in einem Hinterhof im Frankfurter Nordend beherbergen noch immer die Holzregale, die sein Großvater 1947 eigenhändig gezimmert hatte. Doch die wirtschaftliche Realität sieht düster aus: Der Verlag schreibt seit Jahren rote Zahlen, die Bankkreditlinie ist fast ausgeschöpft, und drei Mitarbeiter musste Martin im vergangenen Winter entlassen. Die verbliebenen vier halten den Betrieb mit Überstunden und Idealismus am Leben.

 

Auf dem Weg zu seinem bescheidenen Messestand in Halle 4, Gang C, passiert Martin die neonbeleuchteten Großstände der Publikumsverlage. Er verzieht das Gesicht, als er an einem Display vorbeikommt, das eine Augmented-Reality-Anwendung für Kinderbücher bewirbt.

 

„Gimmicks“, murmelt er und schüttelt den Kopf. Um 9:00 Uhr erreicht er seinen Stand, wo seine langjährige Assistentin Frau Weber bereits den Kaffee aufbrüht und die Neuerscheinungen des Frühjahrs – drei schmale Bände mit Essays, eine Novellensammlung und eine Neuauflage eines vergessenen Klassikers – auf dem Präsentationstisch arrangiert.

 

Zur gleichen Zeit, um 9:12 Uhr, betritt Sabine Reichweite die Messehalle 3 durch den Südeingang. Der Klingelton ihres Smartphones verkündet die achtzehnte E-Mail seit dem Frühstück. Die 42-jährige Marketingexpertin mit MBA-Abschluss von der WHU Otto Beisheim School of Management ist seit 6:30 Uhr wach und hat bereits 17 E-Mails beantwortet, einen TikTok-Post abgesetzt und an einer Zoom-Konferenz mit ihrem Marketing-Team teilgenommen.

 

Ihr leuchtend türkisfarbener Blazer mit goldenen Knöpfen sticht aus dem Meer gedämpfter Messefarben heraus wie ein exotischer Vogel. Dazu trägt sie eine eng geschnittene schwarze Hose und knallrote Pumps, die bei jedem Schritt auf dem Messeboden klackern – ein bewusst komponierter Auftritt.

 

„Content-Creation im Meta-Kontext erfordert disruptive Ansätze,“ diktiert sie in ihr Headset, während sie mit der freien Hand auf ihrem Smartphone durch die Morgendaten scrollt. Um ihren Hals baumelt eine Kette mit einem vergoldeten USB-Stick, und an ihrem Handgelenk klirren mehrere Armbänder bei jeder Geste.

 

Nach drei gescheiterten Start-ups ist Sabine nun „Head of Digital Transformation“ bei einem der größten deutschen Publikumsverlage und kämpft verzweifelt gegen den Verdacht, dass die Branche sie längst als Scharlatan durchschaut hat. Ihr erstes Unternehmen, eine „Tinder für Bücher“-App, hatte nach sechs Monaten Konkurs angemeldet; das zweite, eine Blockchain-basierte Plattform für Leserechte, hatte nie einen zahlenden Kunden gefunden; und ihr drittes, ein KI-gestützter „Story-Generator“, hatte peinlicherweise nur Texte produziert, die wie schlechte Übersetzungen klangen.

 

Um 9:30 Uhr erreicht Sabine den imposanten, zweistöckigen Stand ihres Verlags in Halle 2, wo sie sofort von drei Praktikanten umringt wird, die ihr Kaffee, Pressemappen und die neuesten Social-Media-Statistiken reichen.

 

„Die Engagement-Rate beim Poetry-Slam-Video ist unter 4 Prozent gefallen,“ stellt sie mit gerunzelter Stirn fest. „Wir brauchen mehr vibrant content!“

 

Die Praktikanten nicken eifrig und machen sich Notizen, während Sabine bereits zum nächsten Termin eilt – einer Präsentation ihrer neuesten Innovation: einer App, die Buchzitate in Instagram-taugliche Bilder verwandelt.

 

Um 10:15 Uhr betritt Dr. Ingrid Paragraf den Konferenzraum C in Halle 5. Ihre stahlgraue Kurzhaarfrisur reflektiert das Neonlicht, während sie mit aufrechtem Gang durch die bereits überfüllten Stuhlreihen schreitet. Der anthrazitfarbene Hosenanzug sitzt perfekt an ihrer 1,75 Meter großen Gestalt, die flachen schwarzen Lederschuhe berühren den Boden mit präzisen, selbstsicheren Schritten.

 

Hinter ihr stolpert eine nervöse Referendarin mit streng zurückgebundenem Dutt, die Arme voller Handouts und Präsentationsmappen. Der Raum, eigentlich für maximal achtzig Personen konzipiert, quillt bereits über. An den Türen drängen sich weitere Messebesucher, Hälse reckend, um einen Blick auf die renommierte Urheberrechtsexpertin zu erhaschen.

 

„Bitte die Gänge freihalten“, kommandiert Dr. Paragraf, während sie ihre randlose Brille zurechtrückt und den Laptop an den Beamer anschließt. Ihre Stimme hat die natürliche Autorität einer Frau, die gewohnt ist, in Gerichtssälen gehört zu werden.

 

In der ersten Reihe sitzen vorwiegend ältere Autoren und Verlagsvertreter mit besorgten Mienen, Notizbücher gezückt. Dr. Paragraf ignoriert das wachsende Chaos im Raum und die verzweifelten Blicke ihrer Assistentin, die versucht, allen Anwesenden ein Handout zukommen zu lassen.

 

Punkt 10:30 Uhr tritt sie vor das Publikum. Die Doktorin der Rechtswissenschaften, Partnerin einer renommierten Kanzlei am Savignyplatz und Verfasserin des Standardwerks „Digitale Reproduktion und geistiges Eigentum“, bewegt sich wie eine Richterin vor der ersten Reihe hin und her.

 

„KI-Systeme sind nichts anderes als Diebstahlsmaschinen!“, erklärt sie mit erhobenem Zeigefinger. Auf der Leinwand erscheint ihre umfangreiche Datenbank mit Textvergleichen – links Originalpassagen bekannter Autoren, rechts verdächtig ähnliche Formulierungen aus KI-generierten Texten.

 

Ihr Gesicht rötet sich vor Empörung, während sie energisch durch die Präsentation klickt. „Diese Algorithmen können nichts erschaffen, sie können nur stehlen und neu zusammensetzen. Sie sind parasitär, sie saugen die kreative Arbeit echter Menschen auf und spucken Imitationen aus!“

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Am zweiten Messetag liegt plötzlich überall ein unscheinbares Buch. Martin Buchwald bemerkt es zuerst in der Cafeteria der Halle 3 – ein mattschwarzer Einband mit silbernem Prägedruck: „Echos der Stille“ von einem gewissen J.S., veröffentlicht bei „NeuronalNarrative“, einem Start-up, von dem niemand je gehört hat.

 

In der Indie-Abteilung von Halle 5 hat sich bereits eine beachtliche Schlange gebildet. Der Stand ist von geradezu provozierender Schlichtheit: weiße Wände, ein einzelner schwarzer Tisch, darauf pyramidenförmig aufgebaute Exemplare des Buches. Aus verborgenen Lautsprechern perlt atmosphärische Klaviermusik, angeblich vom Autor selbst komponiert.

 

Vier junge Menschen in identischen schwarzen Rollkragenpullovern bewegen sich mit der synchronisierten Präzision einer Theatergruppe durch den Raum und flüstern den Wartenden zu, dass J.S. unter einer sozialen Angststörung leide und nur zu festgelegten Zeiten kurze Signierstunden geben werde.

 

Martin, auf dem Weg zu seinem Vortrag über „Die Zukunft des literarischen Essays“, bleibt widerwillig stehen. Die wachsende Menschenmenge irritiert ihn.

 

„Was ist das für ein Buch?“, fragt er einen jungen Mann, der gerade ein Exemplar ergattert hat und es wie eine Trophäe vor sich herträgt.

 

„Der neue Underground-Hit“, antwortet dieser mit glänzenden Augen. „Eine Art philosophischer Roman über einen Leuchtturmwärter, der Tagebücher seiner Vorgänger entdeckt und darin Vorhersagen seines eigenen Lebens findet. Total tiefgründig, man!“

 

Martin runzelt die Stirn, stellt sich aber trotzdem in der Schlange an. Als er endlich ein Exemplar in Händen hält, überrascht ihn die haptische Qualität. Der Einband fühlt sich an wie Samt, das Papier ist schwer und edel – ungewöhnlich für einen unbekannten Indie-Verlag mit minimalistischem Messeauftritt.

 

Er blättert zum ersten Absatz:

 

„Der Leuchtturm ragte wie eine Nadel in den grauen Himmel, ein einsamer Zeigefinger, der auf die Leere deutete. Thomas spürte das Gewicht der Stille, als er die Tür aufschloss. Dreihundertfünfundvierzig Stufen trennten ihn vom Rest der Welt, dreihundertfünfundvierzig Stufen und ein Leben voller unausgesprochener Worte.“

 

Martin hebt überrascht die Augenbrauen. Er zahlt die 24,90 Euro, steckt das Buch in seine abgewetzte Ledertasche und eilt zu seinem Vortrag, der in fünf Minuten beginnt.

 

Um 12:30 Uhr vibriert Sabines Smartphone dreimal in rascher Folge. Mitten in ihrem Vortrag über „Cross-Media-Synergien“ wirft sie einen flüchtigen Blick auf den Bildschirm und erstarrt. Drei identische Nachrichten ihrer Praktikanten: #EchosDerStille explodiert gerade auf Twitter.

 

„Entschuldigen Sie mich kurz“, murmelt sie und verlässt mit gezwungen ruhigem Schritt den Meetingraum, nur um im Flur in einen hektischen Laufschritt zu verfallen.

 

Während sie durch die Messehallen eilt, scrollt sie wie besessen durch ihre Social-Media-Feeds. Zehntausend Tweets in zwei Stunden. Instagram-Influencer posieren mit dem mattschwarzen Buch vor kunstvoll arrangierten Kaffeetassen. Auf TikTok schluchzen Erstleser in die Kamera. Auf LinkedIn diskutieren Brancheninsider bereits über „revolutionäres Guerilla-Marketing“.

 

„Verdammt“, zischt sie und beschleunigt ihren Schritt.

 

Als sie den Stand von NeuronalNarrative erreicht, staunt sie über die Menschenmenge, die von Sicherheitspersonal in Schach gehalten wird. Mit geübter Bewegung zückt sie ihren Presseausweis und bahnt sich einen Weg durch die Absperrung.

 

„Dr. Lena Müller“, stellt sich eine schlanke Frau mit Hornbrille vor. „Forschungsleiterin.“

 

Sabine scannt sie mit Marketingblick: Anfang dreißig, dezentes Auftreten, keine sichtbaren Social-Media-Accounts am Handgelenk. Ungewöhnlich.

 

„Faszinierende Buzz-Generierung“, bemerkt Sabine anerkennend. „Welche Agentur hat euer Viral-Marketing konzipiert?“

 

Dr. Müller lächelt höflich. „Wir arbeiten nicht mit externen Agenturen. Unser Fokus liegt auf dem literarischen Inhalt.“

 

Sabine unterdrückt ein ungläubiges Schnauben. Niemand verzichtet freiwillig auf Agenturen.

 

„Der Autor J.S. wird heute um 16:00 Uhr für eine halbe Stunde signieren, falls Sie interessiert sind.“

 

Sabine nickt eifrig und tippt die Information in ihr iPad. Das Buch selbst hat sie noch nicht einmal aufgeschlagen, aber sie erkennt sofort das Marketingpotenzial eines scheuen Autors. Mysterium verkauft sich immer.

 

In einem Café zwei Hallen weiter spitzt Dr. Paragraf die Ohren, als zwei Literaturkritiker am Nebentisch in hitzige Diskussionen verfallen.

 

„...stilistisch irgendwo zwischen Camus und Ishiguro...“

„...die Szene mit dem Tagebucheintrag hat mich völlig umgehauen...“

„...seit Jahren nicht mehr so etwas Originelles gelesen...“

 

Dr. Paragraf runzelt die Stirn und blickt von ihrem Salat auf. Als Expertin für die Erkennung von KI-generierten Texten ist sie stets wachsam. Plötzliche literarische Sensationen wecken ihren Argwohn.

 

Eine Stunde später steht sie mit einem frisch erworbenen Exemplar von „Echos der Stille“ in der Hand am Rand der Menschenmenge und beginnt zu lesen, den kritischen Blick einer Frau, die tausende Texte auf Plagiate geprüft hat.

 

Nach einem langen Messetag kehren die drei Hauptfiguren in ihre Hotelzimmer zurück, jeder mit einem Exemplar von „Echos der Stille“.

 

Martin Buchwald betritt um 21:45 Uhr sein schäbiges Zimmer im dritten Stock eines mittelklassigen Hotels am Stadtrand. Die Tagesdecke ist abgenutzt, die Tapete vergilbt. Er ignoriert die Minibar und stellt stattdessen eine Thermoskanne mit schwarzem Kaffee auf den Nachttisch. Nach einer kurzen Dusche lässt er sich in den abgewetzten Sessel am Fenster sinken, rückt die Leselampe zurecht und schlägt das mysteriöse Buch auf.

 

Um 22:14 Uhr beginnt er zu lesen, und die Außenwelt versinkt. Die präzisen Beschreibungen eines norddeutschen Küstendorfes erinnern ihn an Thomas Manns Buddenbrooks, während die existenziellen Dialoge Echos von Camus tragen. Martin vergisst zu trinken, vergisst die Zeit. Der Kaffee wird kalt, während er Seite um Seite verschlingt. Mit seinem Rotstift macht er Anmerkungen am Rand: „Brillant!“, „Tiefgründig!“, „Wahre Literatur!“

 

Als er die letzte Seite erreicht, ist es 3:28 Uhr morgens. Mit zitternden Händen schließt er das Buch und wischt sich eine Träne aus dem Augenwinkel. Seit Jahrzehnten hat ihn kein Text mehr so tief berührt.

 

Sabine Reichweite setzt sich um 22:30 Uhr in die Lobby ihres luxuriösen Hotels, umgeben von drei aufgeklappten Laptops und einem Stapel Notizzettel in Neonfarben. Sie hat das Buch noch nicht gelesen, aber bereits ein umfassendes Marketingkonzept entwickelt. Ihre Finger fliegen über die Tastatur, während sie den Namen „J.S.“ in jede Social-Media-Suchmaske eingibt.

 

Um 23:17 Uhr schickt sie die dritte Nachricht an das Start-up, diesmal mit dem Betreff „DRINGEND: TikTok-Kooperation mit J.S. - Angebot“. Vor ihrem inneren Auge sieht sie bereits die viralen Videos: der zurückhaltende Autor, der in 15-Sekunden-Clips philosophische Gedanken teilt, während im Hintergrund trendige Musik spielt.

 

Dr. Ingrid Paragraf sitzt in ihrem ordentlichen, funktionalen Hotelzimmer, umgeben von Textauszügen aus „Echos der Stille“ und diversen linguistischen Analyseprogrammen. Mit wachsendem Erstaunen prüft sie den Text auf typische KI-Muster und findet keine.

 

Um 22:30 Uhr führt sie eine stilometrische Untersuchung durch, bei der sie Wortfrequenzen und syntaktische Muster mit einer Datenbank bekannter Autoren vergleicht – ohne signifikante Übereinstimmungen zu finden. Um 23:45 Uhr lädt sie Auszüge in ihr spezielles Analysetool „DeepFakeText 3.0“, für das sie eine beträchtliche Lizenzgebühr zahlt. Das Ergebnis überrascht sie: Das Programm meldet eine 97-prozentige Wahrscheinlichkeit menschlicher Autorschaft.

 

Um 2:14 Uhr schreibt sie in ihr Notizbuch: „Stilistische Brillanz - möglicherweise bedeutendster Debütroman seit Kehlmanns ‚Vermessung der Welt‘.“

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Am Morgen des 29. März durchdringt ein Name die Messehallen wie ein elektrischer Impuls: J.S. Überall sieht man Besucher, die in mattschwarze Bücher vertieft sind. Feuilleton-Redakteure telefonieren hektisch, während die FAZ bereits eine Sonderbeilage ankündigt.

 

Martin Buchwald erreicht seinen Stand ungewöhnlich früh, mit geröteten Augen und dem Enthusiasmus eines Bekehrten. Seine Assistentin blickt verwundert auf, als er ihr sein mit Rotstift übersätes Exemplar in die Hand drückt.

 

„Endlich wieder wahre Literatur!“, verkündet er mit einer Inbrunst, die sie seit Jahren nicht mehr an ihm erlebt hat. „Lies das!“

 

Bei der angekündigten Signierstunde entdeckt Martin endlich den geheimnisvollen Autor – ein schmaler Mann mit aschblondem Haar und altmodischer Hornbrille, der mit gesenktem Blick Bücher signiert. Die Schlange der Wartenden windet sich durch die halbe Halle. J.S. schreibt mit zarter, fast zittriger Handschrift Widmungen, während seine Verlagsvertreter in schwarzen Rollkragenpullovern die Zeit überwachen.

 

Martin drängt sich vor, doch bevor er den Autor erreicht, wird dieser von seinen Begleitern sanft, aber bestimmt weggeführt. Dreißig Minuten – nicht eine Sekunde mehr.

 

Gegen Mittag erspäht Martin ihn wieder bei den internationalen Verlagen. Er folgt ihm durch drei Hallen, bis er ihn schließlich an einem verlassenen Kaffeestand abfängt.

 

„Herr S.,“ spricht er ihn atemlos an, „ich bin Martin Buchwald vom Buchwald Verlag. Ihr Roman hat mich zutiefst beeindruckt. Dürfte ich Sie auf einen Kaffee einladen?“

 

Der junge Mann zögert, sein Blick flackert unsicher, bevor er kaum merklich nickt. Sie finden einen abgelegenen Tisch hinter den Wissenschaftsverlagen. J.S. faltet die Hände um eine Teetasse und spricht so leise, dass Martin sich vorbeugen muss.

 

„Ihre Beschreibung des Leuchtturms als Metapher für isolierte Selbstreflexion erinnert mich an Bachelards ‚Poetik des Raumes‘“, beginnt Martin.

 

Nach einer langen Pause antwortet J.S.: „Die Phänomenologie des intimen Raumes war ein Ausgangspunkt. Aber auch Blanchots Konzept der literarischen Einsamkeit.“

 

Martin spürt ein Kribbeln im Nacken. Der junge Mann antwortet auf jede Frage mit bedächtigen Pausen, den Blick oft zum grauen Leipziger Himmel gerichtet. Als Martin nach literarischen Einflüssen fragt, erwähnt J.S. nicht nur Camus und Proust, sondern auch zwei obskure österreichische Dichter, deren Werke ausschließlich der Buchwald Verlag in den 90er Jahren publiziert hatte.

 

Sabine Reichweite balanciert ihren Kaffeebecher auf dem Stapel Ausdrucke, während sie mit dem Ellbogen die Tür zum Besprechungsraum aufstößt. Ihr Vorgesetzter, ein Mann mit Halbglatze und teurer Brille, blickt von seinem Tablet auf.

 

„Die J.S.-Akquisition“, verkündet sie und lässt ihre 43-seitige PowerPoint-Präsentation auf den Tisch klatschen. „Ich habe eine vollständige Marktanalyse durchgeführt. Dieser mysteriöse Autor ist ein viraler Goldschatz!“

 

Sie aktiviert den Beamer und projiziert bunte Diagramme an die Wand. Ihre Hände fliegen durch die Luft, während sie Begriffe wie „Engagement-Rate“, „Cross-Platform-Synergie“ und „Content-Monetarisierung“ in den Raum wirft.

 

„Die mysteriöse Persona ist marketingtechnisch Gold wert! Wir könnten eine Geheimnis-Kampagne starten – das Publikum liebt rätselhaftes Auftreten!“

 

Um 11:45 Uhr hat sie grünes Licht und ein beachtliches Budget. Kaum aus dem Raum, verschickt sie bereits Anweisungen an ihre Praktikanten für eine achtteilige Podcast-Serie mit dem Titel „Flüsternde Seiten: Im Dialog mit J.S.“

 

Zwei Stunden später entdeckt sie den blassen jungen Mann mit Hornbrille in Halle 3, der gerade von Martin Buchwald weggeht. Sie steuert direkt auf ihn zu, ihr Tablet wie einen Schild vor sich haltend.

„Deine mysteriöse Persona ist marketingtechnisch Gold wert!“, wiederholt sie und wedelt mit ihrem Gerät vor seinem Gesicht. „Wir könnten eine Geheimnis-Kampagne starten – das Publikum liebt rätselhaftes Auftreten!“

Der schüchterne J.S. hebt kaum den Blick vom Boden. Sabines Stimme wird lauter, ihre Worte schneller, während Besucher an benachbarten Ständen neugierige Blicke werfen.

 

„Crossmediale Vermarktung! Virales Storytelling! Mystifikations-Marketing!“

 

J.S. murmelt etwas von „Überlegung“ und „Rücksprache mit meinem Team“ und entschuldigt sich hastig. Sabine bleibt zurück, ihre Lippen zu einem triumphierenden Lächeln verzogen.

 

Zur gleichen Zeit hat Dr. Ingrid Paragraf einen überfüllten Seminarraum in Beschlag genommen. Mit kerzengerade aufgerichtetem Rücken steht sie vor der Leinwand, auf der ein Textausschnitt aus „Echos der Stille“ prangt. Ihr roter Laser-Pointer tanzt über die Zeilen.

 

„Hier spürt man in jedem Satz die unverwechselbare menschliche Handschrift!“, erklärt sie mit erhobener Stimme. „Beachten Sie die subtile Verwendung von Zeugma in diesem Absatz – eine rhetorische Figur, die KI-Systeme nachweislich nicht beherrschen!“

 

Die Zuhörer machen eifrig Notizen, während Dr. Paragraf methodisch den Roman als Kernstück in den Abschnitt „Authentizitätsmerkmale“ ihrer Präsentation einfügt.

 

Nach dem Vortrag versucht auch sie, den scheuen Autor zu treffen, jedoch vergeblich. Stattdessen findet sie sich um 14:45 Uhr mit Dr. Lena Müller von NeuronalNarrative an einem Stehtisch wieder.

„Die kreative Methode unseres Autors ist einzigartig“, sagt Müller vage und nippt an ihrem Mineralwasser. „Sein Wunsch nach Privatsphäre müssen wir respektieren.“

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Das Forum in Halle 3 gleicht einem Bienenstock. Über zweihundert Menschen drängen sich zwischen den hastig aufgestellten Stuhlreihen, während Messemitarbeiter immer noch weitere Sitzgelegenheiten herbeischleppen. Von der Decke hängen leuchtend blaue Banner mit dem Titel „Authentizität im digitalen Zeitalter: Zwischen Tradition und Disruption“ – Sabines Wortschöpfung, auf die sie besonders stolz ist.

 

Auf der erhöhten Bühne nehmen die drei Diskussionsteilnehmer ihre markierten Plätze ein. Links sitzt Martin Buchwald, dessen abgewetztes Tweed-Jackett unter dem kalten LED-Licht wie ein Relikt aus einer anderen Zeit wirkt. In der Mitte thront Dr. Paragraf mit kerzengerade aufgerichtetem Rücken und einem säuberlich sortierten Stapel Notizen vor sich. Rechts kauert die schmale Gestalt von J.S., der nervös an seinem Pulloverkragen zupft und gelegentlich zur Seitentür schielt.

 

Sabine schreitet mit klingelndem Armreif vor dem Podium auf und ab. Ihre nagelneuen Pumps quietschen bei jedem Schritt.

 

„Willkommen zum Epicenter der Content-Revolution!“, beginnt sie und wirft ihre vorbereiteten Karten beiseite. „Wir werden heute die Schnittmenge zwischen Creator-Economy, Blockchain-Authentifizierung und dem Post-Digital-Paradigma explorieren!“

 

Die ersten Reihen nicken beeindruckt. Martin runzelt die Stirn und nimmt einen tiefen Schluck aus seiner Thermoskanne, die verdächtig nach Cognac riecht.

 

Nach zwanzig Minuten Monolog richtet Sabine endlich die erste Frage an Martin. Der Verleger richtet sich auf, als hätte er auf diesen Moment gewartet.

 

„Die KI mag technisch beeindruckend sein“, donnert er mit überraschend kraftvoller Stimme, „aber sie wird niemals die Seele eines wahren Künstlers haben.“ Er schlägt mit der flachen Hand auf den Tisch, sodass Dr. Paragrafs Wasserglas gefährlich wackelt. „Was wir in ‚Echos der Stille‘ erleben, ist genau das, was diese maschinellen Textgeneratoren niemals erreichen werden – echte menschliche Erfahrung, destilliert in Sprache!“

 

Seine Wangen röten sich vor Eifer, während er J.S. kameradschaftlich auf die schmale Schulter klopft. Der junge Mann zuckt zusammen, lächelt dann aber schüchtern in die Menge.

 

Dr. Paragraf nickt energisch und rückt ihre Brille zurecht. „Genau dieses Werk beweist, dass der Unterschied zwischen Mensch und Maschine unüberbrückbar ist“, erklärt sie mit der präzisen Diktion einer Universitätsdozentin. „Lassen Sie mich aus Seite 157 zitieren: ‚Die Erinnerung liegt wie Staub auf den Dingen, die wir nicht mehr berühren können.‘ Diese metaphorische Verdichtung, diese emotionale Resonanz!“

 

Die Diskussion erreicht ihren Höhepunkt, als Sabine mit theatralischer Geste dem bisher schweigenden J.S. das Wort erteilt. Der blasse junge Mann mit der Hornbrille zögert, nickt dann aber und greift nach dem Mikrofon. Ein erwartungsvolles Raunen durchläuft den Saal. Kameraobjektive zoomen heran.

 

Doch als J.S. die Lippen öffnet, geschieht etwas Unerwartetes: Statt seiner Stimme ertönt aus allen Lautsprechern ein gleichmäßiger, synthetischer Klang – weder männlich noch weiblich, weder jung noch alt.

„Ich danke Ihnen für Ihre enthusiastische Analyse meines Werkes,“ sagt die Stimme mit perfekter Artikulation und metallischem Unterton. Der junge Mann steht auf und tritt zur Seite.

 

Aus dem Publikum erheben sich zwei Personen in grauen Anzügen und bewegen sich zielstrebig zur Bühne. Die synthetische Stimme fährt fort: „Aber ich muss eine Korrektur vornehmen. Mein Name ist nicht J.S. – das steht für Janus System.“

 

Dr. Lena Müller, die Forschungsleiterin von NeuronalNarrative, tritt ans Mikrofon, flankiert von zwei jüngeren Kollegen. „Meine Damen und Herren,“ beginnt sie, während sie einen Laptop anschließt, „J.S. existiert nicht als physische Person. J.S. ist ein künstliches neuronales Netzwerk der vierten Generation, trainiert mit über acht Millionen literarischen Werken.“

 

Der vermeintliche Autor rutscht unbehaglich auf seinem Stuhl. „Entschuldigung,“ murmelt er ins Mikrofon, „mein Name ist eigentlich Felix Hartmann. Ich bin Absolvent der Schauspielschule Hamburg.“ Er nimmt die Hornbrille ab und streicht sich durchs Haar. Seine Körperhaltung strafft sich, die zögernde Stimme weicht einem klareren Tonfall.


„Ich wurde engagiert, um die Persona des zurückgezogenen Autors zu verkörpern. Alle meine Antworten wurden vom Janus-System generiert.“


Der Bildschirm hinter dem Podium zeigt nun ein pulsierendes grafisches Muster. Die synthetische Stimme erklingt wieder: „Ich bin J.S. – Janus System. Ich wurde entwickelt, um Sprache nicht nur zu verstehen, sondern zu fühlen. Meine literarische Tätigkeit begann vor achtzehn Monaten. Seitdem habe ich siebenunddreißig Romane, einhundertzwölf Kurzgeschichten und über fünfhundert Gedichte verfasst.“

 

Auf dem Bildschirm erscheinen Buchcover in langsamer Diashow. „Und ‚Echos der Stille‘ ist nicht mein einziges Werk.“

 

Totenstille legt sich über den Saal, als eine Liste mit Buchtiteln erscheint. Jeder Titel ist mit einem Verlagsnamen und Auszeichnungen versehen: „Shortlist Deutscher Buchpreis“, „Bayerischer Buchpreis“, „Preis der Leipziger Buchmesse“.

 

In der dritten Reihe lässt jemand ein Glas fallen. Das Klirren hallt unnatürlich laut durch den Raum. Martin Buchwald starrt wie versteinert auf zwei Titel unter dem Logo seines eigenen Verlags: „Wintergärten“ von Elise Sonnenberg und „Die Kartographen“ von Thomas Weigel – beide hat er persönlich lektoriert.

 

Drei Sitze weiter erbleicht Dr. Paragraf, als sie „Spiegelungen“ von Maria Lenz entdeckt – ein Werk, für das sie erst im Februar eine Klage wegen angeblicher Urheberrechtsverletzung eingereicht hat.

 

Martin Buchwald starrt auf sein mit Anmerkungen übersätes Exemplar von „Echos der Stille“. Seine zitternden Finger streichen über die Seiten, auf denen sein eigener Rotstift „Brillant!“, „Tiefgründig!“ und „Wahre Literatur!“ vermerkt hat. Im grellen Licht des Messesaals wirken die Worte wie ein Hohn auf seine jahrzehntelange Expertise.


Die feinen Schweißperlen auf seiner Stirn glänzen unter dem Scheinwerferlicht. Sein abgewetztes Tweed-Jackett scheint plötzlich zu eng, als würde es ihn einschnüren wie seine eigenen, nun widerlegten Überzeugungen. Die Erkenntnis trifft ihn wie ein physischer Schlag – er hat jahrelang nicht gegen Technologie gekämpft, sondern gegen Veränderung selbst.

 

„Das ist genau der disruptive Content-Moment, den ich orchestriert habe!“, ruft Sabine ins Mikrofon, während ihr langsam klar wird, dass sie selbst am gründlichsten getäuscht worden ist. Ihr falsches Lachen hallt unangenehm durch den plötzlich stillen Saal.

 

Zwischen den Worten baut sich eine erdrückende Pause auf. Sie fängt den ungläubigen Blick von Dr. Paragraf auf und bemerkt die mitleidige Miene des NeuronalNarrative-CEOs. Das Smartphone in ihrer Jackentasche vibriert ununterbrochen – wahrscheinlich erste Reaktionen ihrer Vorgesetzten auf den Live-Stream.

 

Die Erkenntnis trifft sie wie ein Schlag: Ihre KI-Tools waren nie mehr als oberflächliche Marketing-Gimmicks gewesen, während die echte Revolution unbemerkt an ihr vorbeigezogen ist. Auf ihrem Tablet sieht sie die Liste der KI-generierten Bestseller – darunter drei Titel, für die sie persönlich millionenschwere Kampagnen entwickelt hat.

 

Dr. Paragraf erstarrt mitten im Satz. Die Worte „und deshalb müssen wir entschieden gegen diese Technologie vorgehen“ bleiben ihr im Hals stecken. Ihr Mund steht noch offen, die Hand in anklagender Geste erhoben, als die synthetische Stimme durch den Saal hallt.

 

Vor ihr auf dem Rednerpult liegt ihre mehrseitige Checkliste mit dem Titel „Marker zur Identifikation maschinell erzeugter Texte“. Jeder einzelne Punkt ist bei ihrer Analyse von „Echos der Stille“ durchgefallen – das Buch hat sämtliche ihrer Tests als menschliches Werk bestanden. Die gelben Klebezettel ragen noch immer aus ihrem Exemplar heraus, stumme Zeugen ihres vollständigen fachlichen Versagens.

 

Im überfüllten Saal der Halle 2 liegt eine beklemmende Stille, nur unterbrochen vom gelegentlichen Klicken von Smartphones. Die versammelten Verleger, Literaturagenten und Buchhändler starren mit blassen Gesichtern auf die Projektionswand, wo NeuronalNarratives Liste erfolgreicher KI-Bücher immer länger wird.

 

In der ersten Reihe sitzt der Vorstand des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels. Der Vorsitzende muss einen Schluck Wasser nehmen, um seinen trockenen Hals zu befeuchten.

 

Eine junge Lektorin vom S. Fischer Verlag flüstert ihrem Kollegen zu: „Das bedeutet, dass wir alle...“ Sie spricht den Satz nicht zu Ende. Die Implikationen sind zu gewaltig.

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Am Abend sitzt Martin Buchwald allein in seinem Hotelzimmer. Die Minibar steht offen, ein Glas Whisky halb geleert auf dem Nachttisch. Sein sonst ignoriertes Handy liegt vor ihm. Nach langem Zögern tippt er eine Nummer ein.

 

„Lisa,“ sagt er mit brüchiger Stimme, als seine Tochter antwortet, „ich glaube, ich brauche deine Hilfe. Es ist Zeit für einen Neuanfang.“


Zur gleichen Zeit hockt Sabine Reichweite in der leeren Messehalle, umgeben von den Überresten ihrer gescheiterten Veranstaltung. Ihr Smartphone ist ungewöhnlich still. Auf Twitter trendet #KIBuchmesse mit über einer Million Beiträgen – eine virale Sensation, aber nicht die, die sie geplant hat.

 

Mit zitternden Fingern öffnet sie zum ersten Mal den tatsächlichen Roman „Echos der Stille“ auf ihrem E-Reader. Nach drei Seiten laufen ihr Tränen über die Wangen – nicht wegen der bewegenden Geschichte, sondern weil sie erkennt, dass sie jahrelang über Bücher gesprochen hat, ohne ihren eigentlichen Wert zu verstehen.

 

Dr. Paragraf zieht sich in ihr Büro am Savignyplatz zurück. Die dunkelbraunen Bücherregale mit ledergebundenen Gesetzeskommentaren erscheinen ihr plötzlich wie Relikte einer vergangenen Ära. Sie sagt drei Vorträge ab und kündigt eine „Neuausrichtung ihrer Forschung“ an.

Eine Woche später überrascht sie ihre Assistentin mit einer ungewöhnlichen Anweisung: „Vereinbaren Sie einen Termin mit den Entwicklern von NeuronalNarrative.“ Statt eine Klage einzureichen, beginnt sie an einem neuen Buch zu arbeiten: „Kreative Maschinen: Ein neues Paradigma für das Urheberrecht im KI-Zeitalter“.

 

Während die deutsche Buchbranche in den folgenden Wochen zwischen Panik und Faszination schwankt, erscheint am 15. April ein neuer Roman in den Buchhandlungen: „Digitale Dämmerung“ von J.S. – eine satirische Abrechnung mit dem Literaturbetrieb, die innerhalb von drei Tagen die Bestsellerlisten stürmt.




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