Paulus und das Römische Reich - Auf der Suche nach Spuren der Kritik
Als Neutestamentler beschäftige ich mich seit langem mit der Frage, wie sich das frühe Christentum zum Römischen Reich verhielt. Besonders spannend finde ich dabei, wie Paulus in seinen Briefen mit der Vormachtstellung Roms umging. Oft wird angenommen, er sei ein Duckmäuserich gewesen, der an einer Stelle (im 13. Kapitel des Römerbriefes) zum braven Steuerzahlen und zur Unterordnung unter die Staatsgewalt auffordert – und ansonsten nichts zum römischen Regime zu sagen hat.
Seit einigen Jahrzehnten wird in der Forschung jedoch von einflussreichen Forscherinnen und Forschern (zum Beispiel N. T. Wright) die These vertreten, Paulus übe in seinen Briefen "kodierte Kritik" am Römischen Reich. Die Idee dahinter: Weil offene Kritik zu gefährlich gewesen wäre, habe Paulus seine Ablehnung der römischen Ideologie zwischen den Zeilen zum Ausdruck gebracht, in Form eines "hidden transcript", wie es der Soziologe James C. Scott nennt.
In einem kürzlich erschienenen Aufsatz habe ich diese These am Beispiel des Galaterbriefs näher untersucht. Lässt sich dort tatsächlich eine Art Geheimcode entdecken, mit dem Paulus seine Leser auf subtile Weise gegen Rom aufbringt? Mein Fazit fällt zwiespältig aus:
Zunächst habe ich grundsätzliche Bedenken gegen die Methodik, mit der solche Thesen oft begründet werden. Die gängigen Kriterien scheinen mir nicht geeignet, um eine "versteckte Kritik" überzeugend nachzuweisen. Stattdessen sollten wir uns an den Grundsätzen der Wahrscheinlichkeitstheorie orientieren und immer zwei Fragen stellen:
Wie gut würde die These von der kodierten Kritik die Textbefunde erklären, wenn sie denn zuträfe?
Wie plausibel ist diese Annahme angesichts unseres sonstigen historischen Wissens überhaupt?
Beides muss gleichermaßen berücksichtigt werden. Genau das geschieht aber oft nicht. Stattdessen werden fragwürdige Kriterien herangezogen, die suggerieren, die These sei sehr wahrscheinlich - obwohl eigentlich ganz andere Erklärungen viel plausibler wären.
Darüber hinaus gibt es einige Voraussetzungen, die erfüllt sein müssten, damit die These von der versteckten Kritik speziell im Galaterbrief überhaupt eine Chance hätte:
Paulus müsste die Elemente der römischen Propaganda gekannt und als spezifisch römisch wahrgenommen haben.
Er müsste Grund gehabt haben, diese Elemente abzulehnen.
Offene Kritik hätte für ihn riskant sein müssen.
Es müsste zu seiner Persönlichkeit passen, das auf so subtile Weise zu tun.
Es müsste einen konkreten Anlass gegeben haben, sich ausgerechnet im Galaterbrief kritisch zu äußern.
Schon wenn eine dieser Bedingungen nicht erfüllt ist, wird die These hinfällig. Und tatsächlich lassen sich bei genauerem Hinsehen Fragezeichen hinter fast allen Punkten anbringen:
Zwar halte ich es durchaus für plausibel, dass Christen im 1. Jh. Repressionen zu befürchten hatten, wenn sie sich zu weit von der jüdischen Identität entfernten. Jüngste Forschungen zeigen, dass es kein allgemeines Gesetz gegen Christen gab, aber einzelne Gruppen durchaus als "Unruhestifter" exekutiert werden konnten, wenn sie den Unwillen der Bevölkerung erregten. Insofern könnte offene Kritik am Imperium tatsächlich gefährlich gewesen sein.
Aber selbst wenn Paulus Anlass gehabt hätte, sich mit römischer Ideologie auseinanderzusetzen - müssten wir dann nicht viel deutlichere Spuren im Galaterbrief finden? Das sollte doch zumindest der Fall sein, wenn die These stimmt (etwa vertreten von Justin Hardin), dass der Kaiserkult der zentrale Konflikt hinter dem Brief darstellt:
Um die Gemeinden in Galatien zu schützen, hätten einige frühchristliche Missionare die Christen zur Beschneidung aufgefordert – damit sie weiter als Teil des Judentums erschienen und ihre Weigerung, am Kaiserkult mitzuwirken, weniger verdächtig gewirkt hätte. (Denn das Juden nicht für den Kaiser oder heidnische Götter opferten war allgemein bekannt.) Genau gegen diese Beschneidungsforderung wendet sich Paulus mit vielen theologischen Argumenten im Galaterbrief. Starke Polemik gegen den Kaiser findet man aber gerade nicht, obwohl es viele Gelegenheiten gegeben hätte. Wenn der Kaiserkult tatsächlich der Auslöser für die Galater war, sich beschneiden zu lassen - warum verliert Paulus dann kein Wort über diese Gefahr der Verführung? Im Gegenteil, er stellt die heidnische Vergangenheit als endgültig überwunden dar. Wäre da nicht zu erwarten, dass er eindringlich vor einem Rückfall warnt, wenn dieser ihm Sorgen bereitete?
Auch der Vorschlag einiger Forscher, Paulus habe die Motive seiner Gegner bis ganz am Schluss verschleiert und dann mit einem Paukenschlag enthüllt (im sechsten Kapitel, wo er dann sagt, die Gegner wollten die Beschneidung nur, um der „Verfolgung“ zu entgehen), um sie bloßzustellen, wirkt konstruiert. Viel plausibler scheint mir, dass die Galater selbst unter dem sozialen Druck standen, sich zu assimilieren - nicht nur die Agitatoren. Dann aber hätten sie kaum schockiert auf Paulus' Andeutung reagiert, sondern wären wohl eher verwirrt zurückgeblieben.
Heißt das nun, dass die Beschäftigung mit Paulus und dem Römischen Reich eine Sackgasse ist? Keineswegs. Nur müssen wir die Fragestellung anders angehen. Wenn wir nicht krampfhaft nach einer "versteckten Kritik" suchen, können wir sehr wohl Spuren von Paulus' Unbehagen gegenüber der römischen Dominanz entdecken:
Auffällig ist etwa, wie oft Paulus das Motiv der Kreuzigung aufgreift. Eigentlich eine schockierende Vorstellung - denn die Kreuzigung war die grausamste Hinrichtungsmethode, die das Römische Reich zu bieten hatte. Jeder Bewohner des Imperiums wusste das. Umso bemerkenswerter, dass Paulus dieses Symbol der römischen Macht nun gegen das Imperium selbst wendet.
In Gal 2,19 schreibt er, er sei selbst "mit Christus gekreuzigt". In Gal 6,14 steigert er diese Vorstellung noch: Durch Christi Kreuz sei "die Welt", d.h. im Grunde das Imperium, für ihn gekreuzigt - und umgekehrt! Was für ein ungeheuerliches Bild: Der ganze Machtapparat Roms hängt am Kreuz, während Paulus ihm abgestorben ist.
Man stelle sich einen Sklaven in Galatien vor (sie werden in Gal 3,28 explizit erwähnt), der vielleicht selbst einmal eine Kreuzigung miterlebt hat – und der wusste, dass dieses schreckliche Ende auch ihm drohen konnte. Welch ein Schrecken, dort zu enden! Doch Paulus deutet an: Ich habe dieses Schicksal schon hinter mir. (Die Metapher wirkt auf uns nicht mehr schockierend – es wäre, als würden wir sagen: „Ich wurde auf einem elektrischen Stuhl hingerichtet!“) Vielleicht ein gewisser Trost auch angesichts ganz realer Bedrohung von Leib und Leben? Mehr noch, ich bin jetzt selbst in der Position, mein "Fleisch samt Leidenschaften und Begierden" zu kreuzigen (Gal 5,24). Eine Rolle, die sonst nur römische Soldaten innehaben!
Ein Folterinstrument als Hoffnungszeichen, die Opfer als Henker - Paulus stellt die Machtverhältnisse komplett auf den Kopf. Ohne das Imperium direkt zu kritisieren, rüttelt er doch an den Grundfesten seiner Autorität. Für die unterdrückten Galater muss diese provokante Bildersprache wie Balsam gewesen sein.
Aber es gibt noch eine andere Stelle, die vielleicht als eine Art "Gegenstimme" zum offiziellen Rom gedeutet werden kann: In Gal 4,1-2 schreibt Paulus über einen unmündigen Erben, der trotz seines hohen Status unter der Aufsicht von Vormündern steht - und zwar bis zu einem vom Vater festgelegten Zeitpunkt.
Ausgerechnet zur (vermutlichen) Abfassungszeit des Galaterbriefs spielten sich in Rom ganz ähnliche Szenen ab: Neros Adoption und Ernennung zum Thronfolger durch Kaiser Claudius sorgten für Aufsehen. Nicht nur weil Claudius damit seinen leiblichen Sohn Britannicus überging, sondern auch weil erstmals ein Außenseiter in die altehrwürdige Claudische Dynastie eingemeindet wurde - ein unerhörter Vorgang.
Zeitgenossen wie Sueton deuten die Adoption denn auch als Zeichen geistiger Verwirrung des Kaisers. Nero selbst war bei seinem Amtsantritt gerade einmal 12 Jahre alt, also ein klassischer Fall eines "Herrn über alles", der trotzdem noch Vormündern unterstellt ist. Die kleine Geschichte in Gal 4,1-2 könnte deshalb als eine subtile Anspielung auf den "Skandal" am Kaiserhof gelesen werden.
Lässt sich das beweisen? Nein. Aber ganz abwegig ist es auch nicht. Immerhin nennt Paulus das Mündigkeitsalter genauso unbestimmt wie es bei Neros Amtsübernahme der Fall war. Und der Begriff "Herr über alles" liest sich fast wie eine Karikatur auf den übermächtigen, aber unreifen Thronfolger. Sollte hier ein subversives Augenzwinkern mitschwingen?
Letzte Gewissheit werden wir nie haben. Zu fragmentarisch und vieldeutig sind unsere Quellen. Zumal eben auch die genaue Datierung des Galaterbriefs umstritten ist. Je nachdem verschieben sich die möglichen Anspielungen und Hintergründe.
Aber das heißt nicht, dass die Suche nach Paulus' Position zum Römischen Reich fruchtlos wäre. Im Gegenteil: Gerade die Vielzahl plausibler Lesarten kann uns der Wahrheit näherbringen - selbst wenn jede für sich genommen anfechtbar bleibt.
Denn wie in der Textkritik gilt: Selbst wenn wir bei vielen Einzelentscheidungen eine hohe Trefferquote haben, summieren sich die Restrisiken schnell zu einer beträchtlichen Fehlerwahrscheinlichkeit. Aber das Schöne ist: Auch viele für sich genommen unwahrscheinliche Hypothesen ergeben in der Summe ein stimmiges Gesamtbild. Je mehr davon zusammenkommen, desto plausibler wird die Annahme, dass hier mehr als Zufall im Spiel ist. Damit wird unsere kreative, ja spekulative Fantasie bei der Suche nach Gegenstimmen zur römischen Dominanz im Galaterbrief geradezu zur wissenschaftlichen Pflicht - nicht als Gegensatz, sondern als Dienst an der historischen Rekonstruktion.
Je mehr auch nur halbwegs plausible Beispiele zusammenkommen, desto deutlicher der Gesamteindruck: Hier ist wirklich etwas dran. Hier zeichnet sich eine Grundmelodie ab jenseits des großen imperialen Rauschens. Mag auch der Einzelton schwer herauszuhören sein.
Es geht nicht um den einen, hieb- und stichfesten Beweis. Sondern um Indizien, die sich gegenseitig stützen. Die das Wahrscheinliche vom Unwahrscheinlichen scheiden. Und uns so schrittweise ein plastisches, lebensnahes Bild der frühen Christen in ihrer Umwelt schenken.
Eine Aufgabe, die ebenso viel Kreativität wie Disziplin verlangt. Die Fantasie und Methode versöhnt. Genau diese Gratwanderung macht für mich den Reiz der Paulusforschung aus. Und lässt mich immer wieder neu staunen, in welch kraftvollen und subversiven Bildern dieser antike Autor seine Botschaft in die Welt trug.
Darin liegt für mich die bleibende Faszination der Paulusbriefe: Dass sie uns immer neu herausfordern, genau hinzuhören. Wichtiges von Unwichtigem zu trennen. Uns in fremde Horizonte hineinzudenken, ohne den eigenen preiszugeben. Kurzum: aktive, mündige Leserinnen und Leser zu werden. Damals wie heute.
[Der Entwurf dieses Beitrags wurde auf der Grundlage meines Aufsatzes von Claude-3-Opus automatisiert erstellt und dann von mir überarbeitet. Für mehr zu diesem Thema von großen Sprachmodellen und geisteswissenschaftlicher Forschung siehe hier. Die historisch nicht gerade akkurate Zusammenstellung von kaiserlichem Profil, Gekreuzigtem und antikem Brief wurde mit Midjourney erstellt.]
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