Dass die Evangelien Geschichten erzählen, liegt auf der Hand. Sie berichten vom Leben Jesu, von seinen Begegnungen, geben seine Gleichnisse wieder, legen Zeugnis ab von Tod und Auferstehung. Aber Paulus? Der Apostel wird als streitlustiger Denker wahrgenommen, als Vorbereiter kirchlicher Dogmen. Seine Briefe gelten dementsprechend gemeinhin als theologische Argumentationen, gespickt mit abstrakten Konzepten und komplexen Gedankengängen. In meinem neuen Buch "Paul the Storyteller" zeige ich jedoch: Auch Paulus ist ein begnadeter Geschichtenerzähler - nur auf seine ganz eigene Art.
Wenn wir genau hinschauen, finden wir in den Paulusbriefen zahlreiche kleine Erzählungen. Mal berichtet er von dramatischen Wendepunkten seines Lebens, mal von Begegnungen mit den frühen christlichen Gemeinden. Diese "Miniatur-Narrative" mögen auf den ersten Blick unscheinbar wirken. Doch Paulus setzt sie höchst raffiniert ein.
Anders als etwa der Evangelist Matthäus, der seine Geschichten Schritt für Schritt entfaltet, und dabei für uns heute einen nahezu unerträglichen "dann"-Stil wählt, erzählt Paulus meist sehr komprimiert, lässt chronologische Angaben oft ganz weg, weist auf Ereignisse nur knapp hin, statt sie tatsächlich zu behaupten. Er kann sich diese Prägnanz erlauben, weil seine Leserinnen und Leser den Kontext bereits kennen. Was auf uns heute manchmal kryptisch wirkt, war für die ursprünglichen Empfängerinnen und Empfänger seiner Briefe völlig klar – weil sie die Geschichte(n) hinter den Briefen bereits kannten.
Dieser Erzählstil lässt uns nach dem "Warum" fragen. Paulus erzählt seine Geschichten nie zum bloßen Zeitvertreib. Sie sind Teil seiner Kommunikationsstrategie. Selten geht es ihm darum, die Adressaten über neue Entwicklungen zu informieren – wie wir es vielleicht von Geschichtenerzählern in unserem Alltag erwarten. Daher kommt wohl auch der Eindruck, der Apostel erzähle gar nicht. Doch er tut es, nur eben mit anderem Zweck. Mal will er seine Leser zum Umdenken bewegen, sie dazu bringen, bekannte Ereignisse durch eine neue Brille zu betrachten, eine neue Perspektive auf die Welt einzunehmen. Manchmal erzählt er auch Geschichten, die direkt zu bestimmten Handlungen motivieren sollen. Die kleinen Geschichten, mit denen die Paulusbriefe gespickt sind, dienen dem Apostel also als kraftvolles Werkzeug, um seine Botschaft zu vermitteln und seine kommunikativen Absichten durchzusetzen.
Meine Analyse zeigt aber noch mehr: Neben den expliziten Geschichten gibt es bei Paulus auch viele "implizite Narrative". Das sind sozusagen Geschichten im Hintergrund, die mitschwingen und den Text prägen, ohne direkt erzählt zu werden – Geschichten, die man unter bestimmten Umständen zwar erzählen könnte, deren Narration der Apostel aber nur andeutet. Manchmal handelt es sich bei diesen Verweisen auf Ereignisse geradezu um Anti-Erzählungen: Paulus erzählt sie nicht, er zerzählt sie, sagt, was nicht geschehen ist oder geschieht, verweist also auf einen kontrafaktischen Plot, bringt die Leserinnen und Leser etwa dazu, darüber nachzudenken, wie ihre Situation aussehen könnte, hätte Gott in der Vergangenheit anders gehandelt.
Kommunikativ besonders bedeutsam ist auch der Graubereich zwischen der absoluten Verneinung von Begebenheiten und dem uneingeschränkten Bekenntnis zu bestimmten Abläufen, also der Verweis auf Situationen, die möglicherweise den Tatsachen entsprechen könnten. Denn hier sind die Adressatinnen und Adressaten der Briefe dann oft selbst aufgefordert, in ihren Köpfen Geschichten zu erzählen, sich zu überlegen, auf welchem Plot sie sich verorten wollen – um dann zu erkennen, ob sie auf ein Happy End zusteuern oder noch schnell durch ihr Handeln die Handlung anpassen sollten.
Dieses Beispiel zeigt auch: Die von Paulus evozierten „Protonarrative“ weisen oft auch in die Zukunft, sind oft deswegen noch nur potenziell, weil sie noch nicht erzählt werden können. Damit sie aber dereinst im Rückblick als Erfolgsgeschichte erzählt werden können, muss noch etwas geschehen, muss noch ein Gebot befolgt werden, ein Verhalten geändert werden. Indem die Leserschaft die zukünftige Erzählung mental simuliert, versetzt sie sich in die Position von Leuten, die schon gemacht haben, was Paulus ihnen gerade aufgibt. Und wieder sehen wir: Auch die nur "beinahe-Erzählungen" bei Paulus wollen nicht einfach nur informieren, sie wollen neue Perspektiven anregen, zum Handeln motivieren.
Was bedeutet das für unser Verständnis des Apostels? Paulus erscheint hier nicht als der distanzierte Theologe, als der er oft dargestellt wird. Er ist ein Meister der gezielten Kommunikation, der genau weiß, wie Geschichten Menschen berühren und verändern können. Seine Briefe sind keine trockenen Abhandlungen, sondern lebendige Kommunikation mit konkreten Menschen in spezifischen Situationen.
Theologisch sind diese Erkenntnisse hochbedeutsam. Da gibt es einerseits eine negative Konsequenz. Es zeigt sich nämlich, dass man nicht einfach eine Theologie zusammenzimmern kann, indem man verstreute Aussagen des Apostels zusammenbastelt. Dabei reißt man Geschichten auseinander, die zusammengehören, pickt Ereignisse heraus, die nur im Verbund mit anderen Ereignissen und nur zugespitzt auf bestimmte Kontexte so ihren Sinn machen. Paulus wäre mit einem solchen Umgang seiner Schriften nicht zufrieden, würde sich gegen eine solche plumpe Nacherzählung wehren.
Ja, manchmal hätte er vielleicht sogar etwas gegen dieses Nacherzählen selbst – nicht alles was wahr ist, sollte auch so gesagt werden. Es gibt laut Paulus auch ein selbstzerstörerisches Erzählen. Denn es geht beim Erzählen nicht nur um faktisch richtige Aussagen, auch das Wie des Erzählens muss bedacht werden. Wer die eigene Erfahrung der Gnade Gottes etwa stolz prahlend zum Besten gibt, offenbart damit eine Einstellung, welche einen außerhalb des Handlungsstranges platziert. Eine solche Geschichte kann man, so zumindest, nicht erzählen, denn dann hört sie auf, eine zutreffende Erzählung zu sein.
Aber es gibt auch einen konstruktiven theologischen Ertrag. Denn die impliziten Geschichten, die Paulus vorschwebten, liefern an zahlreichen Stellen ein Grundgerüst für seine Argumentationen. Warum bestimmte Dinge aus anderen folgen, kann man nur verstehen, wenn man erkennt, in welchem narrativen Rahmen sich der Apostel bewegt. Diese „narrativen Substrukturen“ verleihen daher zahlreichen, auch nicht-narrativen, Passagen in den Paulusbriefen Kohärenz. Sie zu rekonstruieren, hilft uns, diese hochgradig dichten und komplexen Schriften besser zu verstehen. Und sie verweisen auf so etwas wie ein Weltbild-Narrativ im Hintergrund all dieser situationsbedingten Briefe, eine Geschichte, die sich Paulus selbst erzählt, um sich und sein Handeln in einer Welt neu zu verorten, die er im Licht seiner Erfahrung mit Jesus und dem Geist Gottes neu interpretiert. Die eigentliche Theologie des Apostels lässt sich also gerade dadurch rekonstruieren, dass diese Fragmente der hier und da an die Textoberfläche tretenden Geschichte sorgfältig zusammengefügt werden.
Ist das alles überhaupt relevant – jenseits eines theologischen Elfenbeinturms? Ich denke, ja. Einerseits täten kirchliche Akteure sicher gut daran, nochmal einen zweiten Blick darauf zu werfen, wie genau Paulus den christlichen Glauben vermittelt – nicht als abstraktes Lehrsystem, sondern durch das Aufzeigen möglicher Lebenswege. Seine Protonarrative machen deutlich, wie eng bei ihm Theologie und konkretes Leben verwoben sind. Wenn er etwa über Gottes Geduld spricht, tut er das nicht durch philosophische Definitionen, sondern indem er seine Leser verschiedene Szenarien durchspielen lässt. Das heißt auch: die christliche Botschaft heute zu vermittelt, erfordert Sensibilität für die konkreten Lebensumstände derer, die man erreichen will – und Kreativität (auch literarische)!
Aber auch wer mit der Bibel wenig anzufangen weiß, kann von dieser neuen Betrachtungsweise des Apostels noch etwas lernen. Denn meine Analyse zeigt exemplarisch, wie Menschen Entscheidungen treffen und Veränderungen anstoßen – nämlich oft nicht durch rein rationale Argumente, sondern durch das gedankliche Durchspielen verschiedener möglicher Plots.
Und wer unsere Gegenwart verstehen und unsere Zukunft gestalten möchte, tut gut daran, diese Dynamiken nachzuvollziehen. Nicht nur, um davon zu lernen, um zu imitieren. Auch schon, um überhaupt ein Verständnis des eigenen Ausgangspunktes zu erlangen. Denn das narrative Gewebe, das der Apostel Paulus kreiert hat, durchzieht unsere Gesellschaft wie ein unsichtbares Netz, oft in die verschiedensten Richtungen weitergesponnen im Zuge des Nacherzählens. Implizite Erzählungen über treue Staatsuntertanen und Steuerzahler (Römer 13) und spießbürgerliche Arbeitsethik (2. Thessalonicher 3) spuken in den Köpfen auch säkularer Politikerinnen und Politiker – und oft haben sie wenig bis nichts mit dem zu tun, was dem Apostel selbst vorschwebte. Wir mögen die Bibel aus dem öffentlichen Diskurs verabschiedet haben, und doch wird eben dieser letztlich ganz grundlegend zusammengehalten von einer in unsere kulturelle Enzyklopädie übergegangene Geschichte des Interpretierens – und nicht zuletzt des Missverstehens – dieser, zumindest einst, heiligen Texte.
Es geht hierbei nicht nur um einen Prolog zu unserer eigenen Geschichte, es geht darum, wie wir ganz selbstverständlich Verknüpfungen in unseren gesellschaftlichen Narrativen kreieren, was wir für gut und schlecht erachten, was wir als Folgen und Ursachen überhaupt in den Blick nehmen. Wir können uns selbst als Geschichtenerzählerinnen und Geschichtenerzähler nicht verstehen, wenn wir nicht verstehen, dass Paulus als einer der einflussreichsten Geschichtenerzähler der Menschheitsgeschichte immer noch durch uns spricht. Und wir können nur dann bessere, selbstreflektiertere Geschichtenerzählerinnen und Geschichtenerzähler werden, wenn wir seine Stimme zunächst einmal hören.
Mein Buch Paul the Storyteller ist im Oktober beim Verlag Eerdmans erschienen. In Deutschland - etwa bei Amazon.de - kommt es momentan noch zu einer Verzögerung der Auslieferung, weil der amerikanische Verlag, wie viele andere, gerade von der Insolvenz eines für Europa zuständigen Zwischenhändlers betroffen ist. Die neue englischsprachige Publikation basiert zu großen Teilen auf meiner Forschung als Doktorand, die auf über 1000 Seiten in der Monographie Paulus als Erzähler? entfaltet wird und im Open Access verfügbar ist.
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