Die Frage klingt so einfach: Wann genau wurden eigentlich die Evangelien, die Apostelgeschichte, die Briefe des Neuen Testament und die Offenbarung des Johannes geschrieben? Doch je tiefer man in die Thematik einsteigt, desto komplexer wird es. Denn für die allermeisten Texte gibt es keine eindeutigen Datierungshinweise. Stattdessen müssen Forschende wie Detektive nach Spuren suchen - in den Schriften selbst, aber auch in ihrer Umwelt.
Ein beliebter Ansatzpunkt dabei: die Christenverfolgungen im Römischen Reich. Historisch einigermaßen gut belegt sind staatliche Repressionen ab der Mitte des 3. Jahrhunderts. Doch manche neutestamentliche Texte scheinen schon für eine frühere Zeit Konflikte mit der römischen Obrigkeit und Unterdrückung durch die pagane Gesellschaft widerzuspiegeln. Lässt sich daraus ihr Entstehungszeitraum eingrenzen?
These 1: Das „Christengesetz“ Domitians
Gerade im deutschsprachigen Bereich herrschte aufgrund der Arbeiten des Historikers Jürgen Molthagen lange die Ansicht vor, Kaiser Domitian – der von 81-96 n. Chr. regierte – habe erstmals ein reichsweit gültiges Gesetz erlassen, das gezielt Christinnen und Christen ins Visier nahm. Zwar ist kein öffentlich verkündetes Edikt bekannt, doch Molthagen nahm an, Domitian habe eine bereits unter Nero für die Stadt Rom getroffene Regelung auf das ganze Imperium ausgeweitet, indem er sie als Mandat den Statthaltern in die Provinzen mitgab.
Als Kronzeuge galt der Briefwechsel zwischen Plinius dem Jüngeren, der ab ca. 110 n. Chr. Statthalter der Provinz Bithynien-Pontus war, und Kaiser Trajan, der von 98-117 n. Chr. regierte. Darin ist von christlichen Angeklagten die Rede, die Plinius hinrichten ließ. Für Molthagen war klar: So etwas hätte ein Statthalter nicht einfach so gemacht. Plinius muss sich also auf ein bereits bestehendes „Christengesetz“ Domitians gestützt haben.
Was hätte das für die Datierung der Schriften bedeutet? Der 1. Petrusbrief (der laut Molthagen aus anderen Gründen nicht ins zweite Jahrhundert gehört) wäre dann in die Regierungszeit Domitians zu setzen, ebenso die Johannesoffenbarung. Für die Apostelgeschichte müsste man teilweise wohl annehmen, dass Lukas Erfahrungen seiner eigenen Zeit - eben unter Domitian - ins frühe Christentum zurückprojizierte. Und für die – wie ich behaupten würde – deutlichen Spuren staatlicher Repression in den Paulusbriefen bräuchte es eine kreative Erklärung.
These 2: Trajans Wende in der Christenpolitik
Gegen diese Sichtweise regte sich zunehmend Widerstand. Viele Althistoriker betonten, es gebe keinerlei Belege für ein domitianisches Christengesetz. Recht breiter Konsens herrschte jedoch darüber, dass dann das Reskript des Trajan bis in die Mitte des zweiten Jahrhunderts die tatsächliche Gesetzesgrundlage für den Umgang mit Anhängerinnen und Anhängern des christlichen Glaubens war, das Christsein an und für sich (der „Name selbst“; nomen ipsum) also illegal war.
Einen wegweisenden Vorstoß im Hinblick auf die Datierung frühchristlicher Schriften machte dann aber die Neutestamentlerin Angelika Reichert. Für sie zeigt der Plinius-Brief: Noch zu Beginn von Trajans Herrschaft gab es kein Gesetz, welches das Christsein an sich unter Strafe stellte. Genau darauf habe Plinius aber hingewirkt. Denn, so die Argumentation, nur wenn etwas verboten ist, kann reuigen Abtrünnigen auch etwas generell verziehen werden. Und genau das hätte Plinius gerne getan, um nicht noch mehr Menschen hinrichten zu müssen. Erst Trajan höchstpersönlich habe dann in seinem Antwortschreiben verfügt, dass das christliche Bekenntnis allein für eine Verurteilung ausreiche, das Christentum also offiziell illegalisiert.
Welche Konsequenzen ergeben sich daraus? Der 1. Petrusbrief und die Offenbarung müssten nun in die Zeit nach 110 n. Chr. datiert werden. Manche bauen auch auf dieser These als Fixpunkt auf und verschieben die Abfassungszeit der Offenbarung noch weiter nach hinten, bis in die 130er Jahre, unter Hadrian.
These 3: Nero als Weichensteller
Neben den beiden hauptsächlichen Positionen, die den Beginn einer gezielten Christenverfolgung unter Domitian bzw. Trajan sehen, gibt es eine dritte Sicht. Forscher wie Udo Schnelle und David Horrell erkennen beispielsweise durchaus an, dass sich aus dem Trajan-Plinius-Schriftwechsel kein vorhandenes Christengesetz ableiten lässt. Sie bleiben aber weiterhin im Fahrtwasser Molthagens, insofern sie nach einer einschneidenden religionspolitischen Entscheidung suchen. Faktisch sei der christliche Glaube seit dem Vorgehen Neros gegen die Christinnen und Christen in Rom im Jahr 64 n. Chr. als kriminell gebrandmarkt gewesen, nicht illegal, aber eben quasi-illegal. Prozesse wie sie Plinius beschreibt könnte es daher seit diesem Zeitpunkt gegeben haben.
Was hieße das für die Datierung der Schriften? Der 1. Petrusbrief (der bei einer Mehrheit der Forscherinnen als pseudepigraph gilt, also nicht dem Apostel Petrus selbst zugeschrieben wird) wäre dann recht sicher in das letzte Drittel des 1. Jahrhunderts zu setzen. Dazu passen würde die Bezeichnung Roms als "Babylon", eine potenzielle Anspielung auf die Zerstörung Jerusalems im Jahr 70 anspielt. Da wäre die Gefährdungssituation, die in diesem Text und in der Offenbarung durscheint, dann aber schon gegeben gewesen.
Mir scheint dieser vermeintliche Mittelweg eher ein fauler Kompromiss. Man muss eben annehmen, dass das Jahr 64 eine Weichenstellung markiert. Und das halten auch Autoren wie Schnelle und Horrell in meinen Augen nicht konsequent durch. Denn immer wieder lassen Formulierungen in ihren Arbeiten erkennen, dass die Situation zuvor doch auch schon recht ähnlich gewesen sein könnte.
Eine Gegenthese
Und das führt mich zu meiner eigenen Sicht. Ich baue dabei auf neueren Arbeiten zum Plinius-Trajan-Briefwechsel auf, vor allem auf den Publikationen von James Corke-Webster. Dieser argumentiert überzeugend, dass der Briefwechsel gar nicht primär von religionspolitischen Überlegungen bestimmt ist, sondern von ganz pragmatischen Fragen der Provinzverwaltung.
Plinius hatte einige Christen als potentielle Unruhestifter kurzerhand hinrichten lassen - ein in der Provinz durchaus übliches, rabiates Vorgehen gegen missliebige Minderheiten. Erst als er merkte, dass die Zahl der Beschuldigten unerwartet hoch war und auch einflussreiche Angehörige der lokalen Elite darunter sein könnten, schrieb er an den Kaiser. Ihm ging es darum, sich für den Fall späterer Anfeindungen abzusichern und nicht wegen willkürlicher Urteile in die Kritik zu geraten.
Trajan gab seinem Statthalter den gewünschten Rückhalt. Doch ein allgemeines Christengesetz kodifizierte er nicht. Tatsächlich gibt es keinerlei Belege dafür, dass sein Reskript über die konkrete Situation in Pontus hinaus Bedeutung erlangte oder zum Standardvorgehen wurde. Die Vorstellung, hier sei ein rechtlicher Rahmen für reichsweite Verfolgungen geschaffen worden, geht wohl vor allem auf christliche Autoren zurück, die den Text später – ganz unterschiedlich – für ihre Zwecke vereinnahmten.
Was bedeutet das nun für die Möglichkeit, neutestamentliche Schriften aufgrund der Christenverfolgungen zu datieren? Einen frühstmöglichen Zeitpunkt unter der Regierungszeit eines bestimmten Kaisers lässt sich aus Spuren offizieller Anfeindung in Texten nicht ableiten. Was nicht heißt, dass diese Texte früh entstanden sein müssen! Aber man braucht eben andere Argumente für die Datierung.
Perspektiven-Umkehr
Und das führt mich zu meinen abschließenden Überlegungen. Wenn sich für einen Text der Abfassungszeitraum aufgrund anderer Kriterien näher bestimmen lässt, dann kann er seinerseits als wertvolle Quelle dienen, um die Situation der Christinnen und Christen – und anderer Minderheiten, für die kein solcher Briefwechsel erhalten ist – unter bestimmten Statthaltern zu erhellen!
Ein Beispiel: Geht man davon aus, dass der Galaterbrief tatsächlich von Paulus an Gemeinden im Süden der Provinz Galatien geschrieben wurde, dann fiele seine Entstehung (vermutlich – die Datierung ist auch hier unsicher) in eine Zeit, als die dortigen Christinnen und Christen gleich zweimal kurz hintereinander den Statthalter zu Besuch in der entlegenen Region hatten, wie Inschriften belegen. Dann würde das ein neues Licht darauf werfen, wie Paulus ausgerechnet in diesem Brief so intensiv die Strafe der Kreuzigung theologisch interpretiert – und dabei für römische Ohren ganz unerhörte Aussagen macht – wie etwa, dass die Galater selbst „kreuzigend“ auftreten, wie römische Soldaten, oder dass die Welt (auch und nicht zuletzt: das römische Reich!) „gekreuzigt“ ist. Der Brief wäre dann ein seltenes Zeugnis davon, wie Minderheiten mit der zum Greifen nahen römischen Verwaltung und den von ihr ausgehenden Gefährdungen kreativ umgingen.
Es zeigt sich: Auch wenn der erhoffte Königsweg zur Datierung über die Christenverfolgungen sich als Sackgasse erweist, öffnen sich auf der Schnittstelle von Bibelwissenschaft und Römischer Geschichte doch faszinierende Perspektiven, von denen beide Seiten profitieren können.
[Dieser Beitrag basiert auf dem Skript meines Habilitationsvortrags, den ich am 17. Juni 2024 an der Universität Basel gehalten habe. Daraus hat Claude-2-200k-Opus automatisiert einen Entwurf für einen allgemeinverständlichen Blog-Beitrag verfasst. Diesen habe ich im Hinblick auf inhaltliche Korrektheit und Stil überarbeitet. Die Konversation - ohne das Skript, welches ich noch für einen Aufsatz überarbeite - kann man hier einsehen. GPT-4o war nicht in der Lage, die Schwerpunktsetzung des Vortrags adäquat zu übernehmen. Details zu diesem "lost-in-the-middle"-Problem finden sich etwa in dieser aktuellen Studie. Ich möchte betonen, dass es mir bei Experimenten wie diesem darum geht, das Potenzial großer Sprachmodelle auszutesten und einen Diskurs über die ethische Dimension dieser Möglichkeiten anzustoßen. Ich plädiere damit nicht für die Normalisierung einer solchen Praxis. Immer wieder Neuigkeiten zu verwandten Fragestellungen veröffentliche ich hier.]
Comments