Πρωτοβρόχια, die ersten Regenfälle. Wer Griechenland im frühen Herbst bereist hat, kennt sie. Gerade noch war alles im Griff der anscheinend nie endenden Hitze. Und plötzlich kommt der Regenguss, der alles verändert. Man wacht am nächsten Morgen auf und eine neue Jahreszeit hat begonnen. Es duftet anders. Plötzlich scheint alles in sanfteres, goldenes Licht getaucht. Man hört unzählige kleine Schnecken das schon wieder getrocknete Laub hin und her schieben. Und dazwischen schauen bereits unzählige grüne Pflanzenspitzen hervor. Aber bei aller Veränderung besteht kein Grund zur Panik. Kein Grund, gleich die Kleidung zu wechseln. Das Meer ist noch warm und wird es noch eine ganze Weile bleiben. Es ist nur ein kleiner Vorbote, der den ausklingenden Sommer nur noch mehr genießen lässt.
Das, zumindest, war mein Verständnis der „ersten Regenfälle,“ für welche die Griechen ein eigenes Wort haben. Beinahe jedes Jahr erlebe ich sie, wenn ich zu dieser Zeit in Griechenland bin, der Kälte in Deutschland nochmal für ein paar Wochen entrinne.
Dieses Jahr freilich war alles etwas anders. Ich schreibe diese Zeilen Anfang Oktober bei schönstem Sonnenschein. Und in den Urlaub starteten wir, kaum dass die schlimmen Unwetter in Griechenland Mitte September gerade erst wieder abgeklungen waren. Und dann fiel mir auch noch in einem Supermarkt mit überwiegend leerstehenden Regalen am Rande eines Campingplatzes ein kleines Büchlein mit dem Titel „Τα πρωταβρόχια“ („Die ersten Herbstregen“) von Spyros Kiosses in die Hand (hier ist die Verlagsseite dazu). Es sollte sich als die mich am meisten erfreuende Urlaubslektüre herausstellen. Und deshalb will ich hier auch ein paar Worte darüber verlieren.
Die Geschichte wird uns von dem Jungen Tasos erzählt und spielt zu der bewegten Zeit am Übergang der 1970er zu den 1980er Jahren. Die Wahl der Erzählstimme kam mir aus zwei Gründen gelegen. Zum einen senkt diese das Sprachniveau und macht die Erzählung für mich, der ich kein griechischer Muttersprachler bin, verständlich. Zum anderen beschäftige ich mich in meiner Forschung gerade viel mit der Erzählperspektive. Entsprechend hatte ich viel Freude daran, zu beobachten, wie uns der Autor durch die Augen des heranwachsenden Jungen auf seine Welt blicken lässt.
Die Erzählung besteht aus vielen nur lose miteinander verbundenen Episoden. Die kindliche Wahrnehmung übersieht vieles, was in der Welt der Erwachsenen von großer Bedeutung ist – und vermag zugleich Dinge unter die Lupe zu nehmen, welche den Großen aus ihrer Betrachtungshöhe entgehen. Das mag banal klingen, ist hier aber ganz entzückend umgesetzt, ganz fern üblicher Klischees. Und frei von dem in der Literatur um sich greifenden Zwang, nur Äußerungen zuzulassen, welche den Plot vorantreiben. So ist das Kinderleben nicht. In dem tauchen eben auch Figuren auf und dann wieder ab, die es nie über eine Nebenrolle hinaus schaffen. Und da stehen auch mal Erinnerungen einerseits fest und andererseits ganz unverbunden im Raum. So wie das Erlebnis, als der kleine Tasos eines morgens feststellt, dass er unsichtbar ist („Οι χαρτοπετσέτες“, S. 61-65). Das Kind ist nicht dumm und überlegt sich natürlich genau, ob es sich dabei nicht um einen Traum handeln könnte (kann das aber ausschließen). Zum Glück wird dieses Erlebnis nie aufgelöst. Nur dass Tasos sich nicht wirklich in Luft aufgelöst hat, das ist klar. Denn sein Leben geht weiter. Ganz so, wie das für Kinder eben ist.
Ganz am Schluss schreibt Tasos dann im neuen Schuljahr einen Aufsatz. Eigentlich soll er sich zwischen zwei Themen entscheiden: „Wie hast du den Sommer verbracht?“ und „Die ersten Regenfälle.“ Doch der Junge, der nach diesem Sommer gar kein richtiger Junge mehr ist, schreibt über beides zugleich. Über das Nachbarsmädchen, das weggezogen ist. Über den Vater, der die Familie verlassen hat. Und über die Großmutter, die gestorben ist. Über die Realisierung, dass kein Weg am Erwachsenwerden vorbeiführen wird. Und darüber, dass all diese Erlebnisse wie die ersten Regenfälle im Herbst sind:
„Und all das war wie der erste Regen, liebe Lehrerin. Da denkst du, es ist Sommer und es wird immer nur sonnig und warm sein. Aber dann taucht plötzlich ein kleines graues Wölkchen am Rand des Himmels auf. Es wird immer dunkler und dann bricht der erste Regen los. Alles um dich herum wird nass, du selbst wirst auch nass, und es ist, als würde die Feuchtigkeit ein kleines bisschen in dich eindringen. Und dann wird dir kalt.“ (S. 167, meine Übersetzung)
Als Leserinnen und Leser bekommen wir die einzelnen Regenfälle nicht alle mit. Es tröpfelt nur hier und da. Auch hier zeigt der Autor Sensibilität dafür, wie sich Heranwachsen vollzieht, wie sich Erinnerung verfestigt, wie Biographien geschrieben werden. Das Buch über die ersten Herbstregen bleibt daher doch eher ein Buch über den Sommer der Kindheit. Nur als Erwachsene sehen wir schon, was sich am Horizont abzeichnet. Selbst in der schönen Erinnerung eines Festes, in der Tasos gerne schwelgt, wenn er sich unruhig fühlt, sind sie schon da, die Vorzeichen: „Es ist so schön heute. Der Himmel strahlendblau. Ein kleines graues Wölkchen bloß, am Rand des Horizonts“ (S. 160).
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